Bibliographie





Verena Konrad: Konservierte Utopien. 20er Innsbruck, Feb. 2009 <<

Direkt am westlichen Ufer des Kaspischen Meers befindet sich ein Juwel sozialistischen Städtebaus. Die Stadt Schewtschenko, heute Aktau, wurde nach dem Fund großer Uranvorkommen zu Beginn der 1960er-Jahre in die Steppenlandschaft gebaut. Der Zerfall der Sowjetunion und der darauf folgende wirtschaftliche Niedergang stellten die weitere Existenz der Stadt in Frage. Mit dem Auffinden neuer Erdölfunde im Kaspischen Meer, der Konstituierung Aktaus zur Seehauptstadt Kasachstans und mit einer euroasiatischen Form des Kapitalismus entwickelt sich die Stadt jetzt sichtbar weiter. Seit acht Jahren beschäftigt sich die Berliner Künstlerin Birgit Schlieps in einer Langzeitbeobachtung mit dieser und anderen Stadtlandschaften der Moderne.

Die Stadt Aktau liegt direkt am Kaspischen Meer. Mit 160.000 Einwohnern zählt sie heute zu einer der dichtest besiedelten Gegenden im Westen Kasachstans. Aktau ist eine Stadt mit einer kurzen Geschichte. Ende der 1950er-Jahre wurden in Nord- und Zentralkasachstan große Uranvorkommen, Erdöl und andere Bodenschätze gefunden. Bereits kurz darauf war der erste Generalplan für die zukünftige Idealstadt fertig. Die Stadt wurde 1963 gegründet, weitere Bauetappen bis 1982 umgesetzt. Bis 1991 hieß die Stadt Schewtschenko, benannt nach dem ukrainischen Dichter Taras Schewtschenko, der dort Mitte des 19. Jahrhunderts in zaristischer Verbannung lebte. Schewtschenko sollte zu einem städtebaulichen, architektonischen, wirtschaftlichen und technologischen Vorzeigeprojekt für eine „sozialistische Stadt" werden. Die „sozialistische Stadt" selbst ist jedoch keine Idee der 1960er-Jahre. Bereits in den 1920er-Jahren wurden erste derartige Ideen erarbeitet. Erst mit dem Ende des Stalinismus wurde die vorrangige Entwicklung eines industrialisierten und typisierten Bauens zur konkreten Aufgabe. In den 195Oer-Jahren stand bereits der Wohnbau deutlich im Zentrum des Städtebaus. Die Gründung Schewtschenkos fällt in genau diese Periode.

Die Plattenbauten, die das Straßenbild des heutigen Aktau charakterisieren, entstanden erst in einer späteren Phase der ersten Bauetappe, die bis 1970 andauerte. Die Anfänge der Idealstadt waren geprägt durch einfache, meist zwei- bis dreigeschossige Bauten, die wegen der unzulänglichen Versorgung mit Baustoffen zum Teil ganz aus Muschelkalksandstein errichtet worden waren.

Schon zu Beginn wurde Schewtschenko in sogenannte „Mikrorayone" aufgeteilt, die die Bevölkerung zu kleinen Gemeinschaften zusammenschließen sollten. Diese Mikrorayone waren als nachbarschaftlich organisierte Wohnkomplexe für ca. 8.000 Einwohner konzipiert. Die Wirtschaft Schewtschenkos florierte lange. Die exponierte Stellung der Stadt als technologisches Vorzeigeprojekt garantierte ebenso wie ein konstanter Zuzug von spezialisierten Fachkräften stabile und gute Lebensverhältnisse. Das Ende der Sowjetunion markierte allerdings einen schweren Einbruch. Mit der Unabhängigkeit Kasachstans 1991 begann ein umfassender Rückbau der bisherigen Industriebetriebe und die Stadt mutierte, vergleichbar mit anderen industriebedingten Stadtneugründungen und -erweiterungen, zu einer „shrinking city". 1994 wurde die Urangrube stillgelegt, fünf Jahre später begann der Rückbau des Atomkraftwerks und die Energieversorgung wurde auf Gas umgestellt. Das Auffinden neuer Ölvorkommen im Kaspischen Meer hat dem nunmehrigen Aktau zu einem neuen Aufschwung verholfen. Die Stadt entwickelt sich hin zu kapitalistischen Metropole. Die sozialistische Struktur ist jedoch noch sichtbar. Plattenbauten und alte Reklamewände deuten noch in Richtung Vergangenheit.

Genau diesen Moment greifen die Fotoarbeiten von Birgit Schlieps auf. In der Gleichzeitigkeit verschiedener Realitäten, gesellschaftlicher Entwürfe und gebauter Ideologien zeigen sich verschiedene Versionen und Kontinuitäten der Moderne, die so vielleicht noch nie zu sehen waren. Viele Ansichten Aktaus zeugen auch heute noch von modernistischen Raumkonfigurationen. Doch in unmittelbarer Nachbarschaft entstehen Villen mit Meerblick, teure Luxushotels, exklusive Wellnessanlagen, gläserne Bürogebäude und luxuriöse Wohnhochhäuser.

Der Umgang mit dem Erbe der städtebaulichen Moderne der Nachkriegszeit wird von Politik, Denkmalpflege und Architekturtheorie äußerst kontrovers diskutiert. Meist geht es dabei um die Frage, welche einzelnen Gebäude, Siedlungen oder urbanen Situationen erhalten, weihe erneuert und welche zum Abriss frei gegeben werden sollen. Bis vor wenigen Jahren wurde die Stadt Aktau in Westuropa noch nicht als Stätte der sozialistischen Moderne wahrgenommen. Birgit Schlieps entdeckte die Stadt 1999 durch einen Artikel in der Süddeutschen Zeichnung. »In der Wüste verdorrt ein Traum«, zitiert sie den Titel. Es folgten drei Reisen nach Aktau. »Die Stadt hat sich besonders in den vergangenen fünf Jahren sehr verändert, von der sozialistischen Idealstadt zur deindustrialisierten »shrinking city« und zur kapitalistischen Metropole. Fasziniert hat mich besonders die Gleichzeitigkeit dieser verschiedenen Städte.«

Birgit Schlieps war bis Ende Januar im Rahmen eines internationalen Fellowship-Programms zu Gast im Künstlerhaus Büchsenhausen. Recherche und Langzeitbeobachtungen gehören zum künstlerischen Arbeitsspektrum der Künstlerin. Die Auseinandersetzung mit Städtebau, urbanen Theorien, Architektur und Wohnen findet nicht nur in ihrer Tätigkeit als Lektorin ihren Niederschlag, sondern vor allem in einem künstlerischen Prozess der Übersetzung. Birgit Schlieps arbeitet mit Fotografie, Video, Zeichnung, Text, dreidimensionalen Objekten und Installationen. Dabei geht es immer darum, sich der Konstruktion von Raum so zu nähern, dass keine eindeutige Interpretation mehr möglich ist, um so etwas über das Phantasma der Moderne zu erfahren. Während ihres Aufenthaltes in Büchsenhausen arbeitete Birgit Schlieps an ihrem Projekt »Trancemoderne«, das sich mit dem halluzinatorischen Moment der Gleichzeitigkeit verschiedener Lebenswelten auseinandersetzt, die auch in Aktau zu finden sind.

»Ich möchte den Prozess der Bildproduktion in Verbindung mit Architektur direkt thematisieren«, erklärt die Künstlerin und blättert dabei in ihrem Buch »Rohmodelle«. Das Buch beinhaltet Fotografien, die 2003 in Aktau entstanden sind, sowie Interviews, die sie mit Protagonisten des modernen Städtebaus der 1960er-Jahre, Kunsthistorikern, Architekten, ansässigen Projektmanagern und Bewohnern Aktaus führte. »Im Rahmen von Trancemoderne ist geplant, anhand von fünf Orten innerhalb dieser Stadt verschiedene räumlich-bildliche und erzählerische Konstruktionen zu erarbeiten. Es geht um eine Verknüpfung vorhandener Bilder der 1970er- und 1980er-Jahre und der darin enthaltenen Vorstellungsweiten mit eigenen Bildern, die einerseits den übrig gebliebenen Fragmenten der Moderne nachspüren und andererseits das heutige Stadtbild ausschnitthaft konstruieren.«