Bibliographie

Johannes Wendland: Vor dem Zaun die Träume. zitty Berlin, Sept. 2005 <<

Manchmal ist Rückbau Vorbau: Ein neues Künstlerbuch von Birgit Schlieps

Fünf Jahre ist es her, dass Birgit Schlieps damit anfing, die Geschichte und Gegenwart von Aktau zu erforschen. Die Fotos, Zeichnungen und Interviews, die die Architektin und Künstlerin bei ihren Besuchen in der ehemaligen sozialistischen Musterstadt am kasachischen Küstenabschnitt des Kaspischen Meers sowie in weiteren Modellstädten der funktionalistischen Moderne - Hoyerswerda, Tapiola (Finnland), Sofia - erstellte, hat sie jetzt in dem Buch Rohmodelle zusammengefasst.

Wer es liest und die Bilder darin betrachtet, erfährt dabei mehr als aus so manchem architekturgeschichtlichen Wälzer - weil Schlieps Planungsgeschichte und Lebenswirklichkeit, wissenschaftliche Aussagen und Zeugnisse von Zeitzeugen, Erkenntnis und Erfahrung miteinander verknüpft. Als Künstlerin darf sie das und braucht keine Rücksicht zu nehmen auf Gattungsgrenzen, Forschungsgelder oder mögliche Kollegenschelte. Für ein Thema wie den Aufstieg und Verfall einer sozialistischen Musterstadt ist das sehr angemessen.

Die Geschichte ist nämlich offen. Noch immer leben Menschen in der Stadt, hegen Hoffnungen und Perspektiven - so verrottet manches auf den ersten Blick auch aussehen mag. Aktau wurde in den 1960er Jahren aus der Steppe gestampft. Uranfunde in der Umgebung ließen es notwendig werden, das zuvor nahezu unbesiedelte Land urbar zu machen. Einzigartig in der Weit ist die Methode, die die UdSSR dafür wählte: Aktau lebt und gedeiht einzig von entsalztem Meerwasser. Für die riesige Anlage, die die Entsalzung besorgt, wurde ein eigenes Atomkraftwerk errichtet, ein „schneller Brüter", der vor einigen Jahren wieder vom Netz genommen wurde. Planmäßig wurde die Stadt in kleinen Wohngebietseinheiten für jeweils rund 8.000 Menschen errichtet, sogenannten Mikrorayons. Jeder Mikrorayon umfasste neben den in Plattenbauweise errichteten Wohnblocks eigene Geschäfte, Schulen und Kindergärten. Der zweite Generalplan von 1984 sah vor, dass Aktau einmal 300.000 Einwohner haben sollte.

Wenige Jahre später schien Aktaus Schicksal nach der Unabhängigkeit Kasachstans und dem Zusammenbruch der Uranförderung besiegelt. Doch dann wurde vor der Küste im Kaspischen Meer Öl gefunden, und damit hat die Stadt plötzlich wieder eine Zukunft. Die neue Grenzziehung hat zudem bewirkt, dass Aktau unversehens zu Kasachstans einzigem Seehafen wurde. Derzeit leben dort etwa 150.000 Menschen.

Die Fotos von Schlieps zeigen eine Stadt, deren Bausubstanz angenagt ist. Liberal l durchdringt die Steppe die urbane Textur. Sand, verdorrende Bäume und Grünflächen, von Unkraut und Wurzeln aufgesprengte Plätze und Höfe, daneben unvollendete Neubauten und Investitionsruinen - ein trostloser Eindruck. In bemerkenswertem Kontrast dazu stehen die Interviews, die der Band in pointierter Kurzfassung präsentiert, in denen Unternehmer, PR-Manager, Stadtplaner und Bewohnerinnen von ihren Erfahrungen berichten. Und die klingen zuversichtlich und vital, Aktau ist fern und doch so nah. Eine Stadt wie Hoyerswerda zum Beispiel erzählt eine nahezu identische Geschichte. Schlieps deutet diese Verbindung an, indem sie ein Interview mit einem Architekten von dort aufgenommen hat. Insgesamt gelingt es dem Band glänzend, für die Perspektivensuche der ehemaligen Vorzeigestädte des Sozialismus zu sensibilisieren.

Birgit Schlieps: Rohmodelle, Revolver-Archiv für aktuelle Kunst, Frankfurt am Main (2005). 128 Seiten, 25 Euro