Bibliographie

Kito Nedo: Die Utopien der Moderne. Berliner Zeitung, Mai 2007 <<

POSTSOZSTADT Birgit Schlieps und die Utopien der Moderne. El Lissitzkys Wolkenbügel-Hochhäuser gehören zu den mythischen Visionen der Moderne. Der russische Konstruktivist hatte sie 1924 entworfen, an acht Stellen in Moskau sollten sie vom Fortschritt der Russischen Revolution künden, doch wurden sie nie gebaut. Die Berliner Künstlerin Birgit Schlieps besuchte die Stätten dieser gescheiterten Utopie und fotografierte, was sie sah: acht gewöhnliche Straßen-kreuzungen einer postsowjetischen Metropole, überwuchert von kaum gezügeltem Verkehr und Werbung, eine Projektionsfläche für neue architektonische Ideen.

Zurück in Berlin, fertigte Schlieps von ihren Moskau-Bildern kleine, gestochen scharfe Digitalabzüge und arrangierte sie zu Vierergruppen. Sie sind wie ein Epilog zu den Exponaten im Ausstellungsraum. Dort sind in sorgfältiger Komposition die fotografischen Ergebnisse dreier Reisen zu sehen, die Schlieps zwischen 2000 und 2005 in die kasachische Stadt Aktau führten, einer dank Ölvorkommen und Frachthandel florierenden Stadt am Kaspischen Meer.

Auch hier gilt ihr Interesse der Architektur und dem Wandel, der sich in ihrer Veränderung manifestiert. Nur wenige Städte eignen sich wohl besser für eine solche Untersuchung als die Boomtown mit ihren rund 160 000 Einwohnern. In Aktau, Ende der Fünfziger Jahre als sozialistische Musterstadt aus dem Steppenboden gestampft, zeigen sich besonders deutlich die Folgen der postsowjetischen Deregulierung aller Lebensbereiche. Neben Plattenbauten der sechziger und siebziger Jahre schießen nun kleine Privatvillen mit Giebeldächern und geschwungenen Balkonbrüstungen wie Pilze aus dem Boden und überwuchern so nach und nach das geometrische Stadtraster von einst.

Mit dezentem Blick registriert Schlieps in ihren lichtdurchfluteten Stadtansichten diese neuen Nachbarschaften und die Durchdringungen von Alt und Neu, die merkwürdigen Verdrehungen, die entstehen wenn sich klassische Moderne, folkloristische Muster und postmoderner Historismus im grellen Licht der kasachischen Steppe begegnen. Es ist eine "Trancemoderne", so der Begriff, unter dem Schlieps ihre Bilder aus Kasachstan jetzt erstmals präsentiert.

Ob die Visionen von einst und die mit ihr verbundenen gesellschaftlichen Idealvorstellungen endgültig gescheitert sind, bleibt unter Schlieps' Blick unklar. Alles scheint in der Schwebe, eine ätherische Stimmung liegt über der Szenerie. Das urbanistische Chaos wuchert munter weiter, es ist der Wildwuchs der Gegenwart.

Zwinger Galerie, Gipsstraße 3, bis 19. Mai. Di-Fr 14-19, Sa 12-18 Uhr. Foto: Der Traum vom Wohnen: Plattenbauten im kasachischen Aktau.© Birgit Schlieps