Bibliographie

Felix Denk: Niagara Falls. zitty 10, Mai 2009 <<

Die Niagarafälle sind ein Naturspektakel, das ganz unterschiedliche Menschen aus ganz unterschiedlichen Gründen anzieht. Frischvermählte verbringen hier ihren Honeymoon, Selbstmörder ihre letzten Momente, und die „International Suspension Bridge“, welche die USA mit Kanada verbindet, war im 19. Jahrhundert das letzte Nadelöhr, das fliehende Sklaven auf dem Weg in die Freiheit zu bewältigen hatten. Einen ganz eigenen Raum für die Wahrnehmung der Wasserfälle erzeugt die Berliner Künstlerin Birgit Schlieps in dem Grenzwachturm Schlesischer Busch auf dem ehemaligen Todesstreifen zwischen Treptow und Kreuzberg.

An die Innenwände des Turms hat sie eine Fototapete mit einer Ansicht des gigantischen Wasserfalls geklebt. Als Vorlage diente eine Fotografie, die Schlieps auf einem New Yorker Flohmarkt aufgestöbert hatte. Das postkartengroße Motiv hat sie auf 7,60 mal 5,20 Meter gezogen und über zwei Stockwerke an der Nord und Westseite befestigt. Die grobe Rasterung und der glänzende Schimmer der Tapete auf der körnigen Oberfläche der Mauer erzeugen die Illusion des Sprühregens. Doch das Erhabene, das ein Wasserfall mit seinen nicht nachlassenden Wassermassen und dem tosenden Lärm ausstrahlt und das auch in Darstellungen von Caspar David Friedrich bis Olafur Eliasson ein wiederkehrendes Motiv ist, verwandelt sich in dem engen Wachturm in etwas Beklemmendes. Die Orte und Wirklichkeiten überlagern sich. Die ehemalige deutsch-deutsche Grenze, die man aus dem Fenster im obersten Stock sieht, der Wasserfall, den man zu hören meint, und das Foto, über dessen Herkunft man nur mutmaßen kann, verschmelzen zu einem einzigen imaginierten Ereignis.

Bis 31. 5.: Grenzwachturm Schlesischer Busch, Am Flutgraben 3, Treptow, U Schlesisches Tor. Do – So 14 – 19 Uhr, www.kuntsfabrik.org. Foto: »General View of Niagara Falls from Int. Bridge, September 1920«, Fotogr. unbek.